Tod, wo ist Dein Stachel?

 

Tod, wo ist Dein Stachel?

von Ulrike Schmidt

Wir alle fallen.
Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an:
es ist in allen.

aus: Herbst von Rainer Maria Rilke

 

 

Die Überlieferung erzählt, dass Ananda, einer der bedeutensten Begleiter des Buddha, sehr „weltlich" reagierte, als ihm klar wurde, dass der Buddha bald sterben würde. "Dann trat Ananda überwältigt beiseite, hielt sich am Torpfosten fest und weinte." 1)
Bereits einige Wochen zuvor, als der Körper des Buddhas von einer schweren Krankheit befallen wurde, können wir Ananda ebenso als einen sehr emotional reagieren Menschen erleben: "Ananda war wegen der Krankheit des Buddha so verzweifelt und so niedergeschlagen, dass er nicht mehr richtig denken konnte." 2)
Dass Ananada offensichtlich nicht alles Geschehen mit Gleichmut hinnehmen konnte, erklärt sich daraus, dass er zu Lebzeiten des Buddhas noch nicht die volle Erleuchtung erlangt hatte. Er befand damals sich im ersten Stadium des Erwachens, er war ein Stromeintreter.3)

Die meisten von uns dürften in ähnlicher Weise auf Sterben und Tod von geliebten, uns nahestehenden Menschen reagieren: wir können es nicht fassen, wir weinen, wir verzweifeln, unser Herz schmerzt erbarmungslos in unserer Brust, wir kämpfen, hadern, hoffen, kurz: wir leiden! So wie seinerzeit der Buddha den Mönch Ananda tröste und ihn daran erinnerte, dass alles der Wandlung und Veränderung unterliegt, so können wir uns auch heute die Lehre und Weisheit des Buddhas zu nutzen machen.

Siehe, ich sage Euch ein Geheimnis:
Wir werden nicht alle entschlafen,
wir werden aber alle verwandelt werden.
I Corinther 15

Wenn eines gewiss ist in unserem Leben, dann dieses: wir werden sterben. Was wir nicht wissen, ist das wann und wie und wo, das wodurch und wozu und warum jetzt. Und die große Frage: was kommt danach? Da der Tod tatsächlich der einzige Faktor in unserem Leben ist, dem wir nicht entrinnen werden, ist es eigentlich verwunderlich, warum sich so wenige Menschen nicht auch konsequent auf das Sterben vorbereiten. Alles Leben auf dieser Erde strebt auf den Tod zu. Man kann nicht einmal sagen, dass der Tod ein Versehen ist, dass er sich nur zufällig ereignet, dass er immer nur die anderen trifft. Nein, jeder von uns weiß davon. Was den meisten Menschen fehlt, ist die eigene Erfahrung vom Sterben.


Herr, lehre doch mich,
dass ein Ende mit mir haben muss
und mein Leben ein Ziel hat
und ich davon muss.
PSALM 39

 

Alles muss sterben, damit ein Überleben sichergestellt ist. Jede Frucht am Baum wächst, hat eine kurze Zeit der süßen Reife, und dann ist der Verfall nicht mehr weit. Wir sehen all die Pflanzen, wie sie wachsen, werden und vergehen. Die Tiere, sie wachsen, werden, vergehen. Wir Menschen auch. Wachsen, werden, vergehen. Was ist daran so schwierig? Vielleicht weil Sterben immer nur die anderen tun. Und meistens tun sie es auch woanders, nicht sichtbar für die Mehrzahl der Mitmenschen. Sterben wird in unseren westlichen Gesellschaften immer mehr ausgegrenzt. Es ist modern, jung und hübsch und schlank zu sein, es ist Klasse, wenn man Geld hat, einen tollen Job und von möglichst vielen bewundert wird. Es ist hierzulande nicht sehr populär, alt zu sein an Jahren, weise im Geist und vielleicht arm in der Tasche. Die Alten werden nicht mehr gebraucht, werden übersehen, weggetan. Aber tatsächlich ist es so, dass wir Jungen uns durch dieses Verhalten ärmer machen. Wir schneiden uns selbst von unseren Wurzeln und unseren Kraftquellen ab. Und spüren es oft nicht einmal.

Möglicherweise ist Sterben das Schönste,
was uns je begegnen wird.

Das, was wir Menschen in unserem Sprachgebrauch mit "Sterben" und "Tod" bezeichnen, stellt sich uns, die wir im Moment nicht tot sind, als etwas Endgültiges dar. Wir erleben es ja tatsächlich auch als etwas Endgültiges, Unwiderrufbares, wenn wir die Erfahrung machen, dass ein Mensch nun nicht mehr IST. Diese Abschauung berücksichtigt jedoch in keiner Weise, dass es sich lediglich um einen Prozess der Wandlung handelt. Das kosmische Gesetz ist, dass nichts wirklich verloren geht. Der Buddhismus kennt daher auch keine Angst vor dem Tod. Er weiß um die Wiedergeburt, wenn auch nicht exakt derselben Seele, so doch zumindest einer ähnlichen Seelensubstanz. Der Buddhismus kennt das Wissen um die Wiedergeburt all jener, die noch nicht in das Nibbãna eingetreten sind. Eine Wiedergeburt ist jedoch nicht unbedingt erstrebenswert, da damit zunächst erneutes "Leiden" besiegelt wird. Im Laufe des Lebens kann jedoch weiter auf die großen Befreiung hingearbeitet werden.
Vielleicht gehören auch wir dann einmal, nach tausend Wiedergeburten, zu den Stromeintretern (mit maximal sieben weiteren irdischen Wiedergeburten), den Einmalwiederkehrern und schließlich den Nichtmehrwiederkehrern. In diesem Sinne, Ihnen allen noch ein gutes Leben!

 


1) zitiert nach: Nyanaponika Thera / Hellmuth Hecker: Die Jünger Buddhas, O.W. Barth, S. 198

2) a.a.O., Seite 193

3) Erst kurze Zeit nach dem Tod Buddhas, erlangte Ananda die Erleuchtung. Da er alle Lehrreden Buddhas fehlerfrei rezitieren konnte, wurde er zum ersten buddhistischen Konzil geladen, zu dem jedoch nur Arahats Zutritt hatten. Daher wurde ihm die Auflage gemacht, er könne nur teilnehmen, wenn er bis dahin die Erleuchtung erreicht hätte. Dies hat ihm vermutlich den letzten nötigen Ansporn gegeben und er erlangte die volle Erleuchtung in der Nacht vor dem Konzil. Er lebte noch weitere vierzig Jahre und galt als der "Hüter des Dhamma".