Rückblick auf zwölf Tage in St. Altfrid im Sommer 2005

 

Rückblick auf zwölf Tage in St. Altfrid im Sommer 2005

Die Berliner Schule für Zen Shiatsu, an der ich lernte und das Müttergenesungswerk mit St. Altfrid schufen die Rahmenbedingungen für meine Körperarbeit mit acht Frauen innerhalb der Mutter-Kind Kur.

Ich gab Shiatsu. Niemand kannte Shiatsu, weder die Mütter noch die Mitarbeiterinnen, noch die Leiterin des Hauses. Es war also die Gunst der Stunde, völlig unbekanntes Terrain zu beackern. Und ich war verblüfft über die Offenheit und Begeisterung für diese Methode. Die Frauen kamen überwiegend aus den anliegenden Städten des Ruhrgebietes, hatten meist mehrere, teils auch behinderte Kinder und das Verbindende war die Erschöpfung und Überforderung. Sie litten unter ihren Alltagsbedingungen. Ihre Lebensgewohnheiten schienen oft erschwerend. Fast alle Frauen rauchten. Niemand war vor Kurbeginn mit irgendeiner Form von Entspannungsmöglichkeit in Berührung gekommen. Trotz schönster Landschaft mussten die meisten Frauen von den Mitarbeiterinnen motiviert werden, diese zu erleben. Es lag außerhalb ihrer Gewohnheiten.

Meine Vorgeschichte ist eine andere. Ich komme aus einer eher ländlichen Region, war als Kind immer in Verbindung mit Natur, bin in den bisweilen zweifelhaften Genuss von schulischer und universitärer Bildung gekommen, habe keine Kinder, bin Künstlerin, Heilpraktikerin, Apothekerin und liebe die Berührung.

In den 16 Jahren meiner Apothekentätigkeit wurde mir immer klarer, dass unser Gesundheits- und Gesellschaftssystem trotz hoher äußerer Mobilität Statik begünstigt und damit auch Krankheit erhält. In vielen Fällen lauscht der Arzt nicht mehr dem Patienten, sondern betrachtet die mittels modernster Technik ermittelten Biowerte, leitet daraus die Schwere der Erkrankung ab und entwirft den Therapieplan. Diese Medizin ist hoch effizient bei drastischen, akuten Erkrankungen und schweren Unfallverletzungen, wo niemand mehr nach seinem Befinden befragt werden kann. Doch dieses Vorgehen greift wenig bei chronischen Erkrankungen und bietet auch kaum Raum für Befindlichkeitsstörungen unklarer Genese. Insgesamt scheinen wir kränker zu werden. Es fehlt die Verbindung zum eigenen Wohlsein und somit auch die Verbindung zum Anderen. Viele erkennen nicht mehr, was sie brauchen. Wir verdrängen, anstatt uns zuzuwenden. Wir, in dieser Zeit und an diesem Ort, sind hoch qualifizierte Konsumenten, Konsumexperten auch von Gesundheit. Dafür sind einige unserer Potenziale verkümmert. Wir haben verlernt, im Einklang mit unserer Natur zu leben. Wir sehen Krankheit als vernichtungswerten Gegner der Gesundheit und erkennen auch den Tod nicht mehr als Teil des Lebens. Wir haben vergessen, dass das, was von uns ausgeht auf uns zurückfällt, dass wir eingebunden sind im Kosmos. Leben hält sich selten an Normgrößen.

Shiatsu basiert auf der Philosophie der Absichtslosigkeit, der Wertfreiheit und des Geschehenlassens. Es hat eine ähnliche Wurzel wie die asiatischen Kampfsportarten. Es geht darum mit dem Gegner zu ringen, nicht gegen ihn. Er wird von seiner eigenen Angriffskraft zu Boden gerissen. Es bedarf nur der Empfänglichkeit, wer der andere ist und der Aufmerksamkeit, was die nächste Bewegung sein wird. Wir sind mit allem ausgestattet. Unser Körper ist ein Wunder der Selbstregeneration.

Meine These ist, dass niemand jemanden heilen kann aber jeder die Fähigkeit kultivieren kann, die Selbstheilungskräfte in sich oder im Anderen anzuregen.

Grundlage dafür sind Achtsamkeit, Respekt und Empfänglichkeit.

Ein einfaches Mittel ist die Berührung. Sie kann auf körperlicher, emotionaler, mentaler und spiritueller Ebene erfolgen Mit diesem kleinen Exkurs möchte ich die Ecke beleuchten aus der ich komme und den Raum, in den ich gehe.

Orte, wie St. Altfrid schaffen Raum.

In ruhiger Atmosphäre finden Mütter und deren Familien Unterstützung zunächst ganz praktischer Art. Die Kinder werden betreut, das Essen wird gekocht, ein Tagesplan ist von außen vorgegeben. Dieser Plan beinhaltet verschiedene Therapieformen wie Physio- und Psychotherapie, Anleitungen für Entspannungsmethoden, gemeinsames Wandern, Austausch und Gespräch mit anderen Müttern, Spieleabende oder auch Sauna- und Schwimmmöglichkeiten. Die Mütter finden Gelegenheit, sich selbst zu erfahren. Das wirkt weiter in den Kindern und bringt Veränderung für das gesamte Umfeld. Shiatsu ist für diese Situation wie geschaffen. Der günstige äußere Rahmen der Kur unterstützt die Reise nach innen. Es ermutigt die Frauen zu einem veränderten Körper- und Selbstwertgefühl, allein weil es so achtsam, den ganzen Menschen meinend, ausgeführt wird. Es wirkt nährend und unterstützend.

Im Sommer 2005 jedoch wunderte ich mich noch. Als frisch geprüfte Shiatsupraktikerin hatte ich bis dahin Shiatsu nur im Freundes-, Verwandten- und Bekanntenkreis angewandt und wenig Erfahrungen mit stark aus der Balance geratenen Menschen. Nie vorher begegnete mir eine solche Bedürftigkeit. So war ich verblüfft, dass Shiatsu bei den Frauen wie ein Geheimtipp gehandelt wurde.

Und mir wurde klar, dass diese achtsame, respektvolle Art der Berührung, des gemeinsamen Lauschens Wege zum eigenen Sein eröffnet. Wie Verdurstende nahmen die Shiatsu unerfahrenen Frauen jeden Tropfen Berührung und Zuwendung auf. Sie fühlten teilweise deutlich Energie fließen oder nahmen sich auf ungewohnte Weise wahr. Alle kamen in einen Zustand der Entspannung. Das meint, der Parasymphatikus führt, die Atmung vertieft sich, die Muskulatur und der Geist lassen los. Lang verschlossene Tore öffnen sich wieder und es entsteht Raum.

Jedes Wesen hat einen Impuls zum Heilsein. Gemeinsames Lauschen verbindet und schafft Einsicht. Stresserzeugende Gewohnheiten werden als solche erkannt. Eine der Frauen, starke Raucherin, hatte in St. Altfrid kaum mehr das Bedürfnis zu rauchen. Andere bemerkten, wie wichtig es ist, sorgsam mit sich umzugehen. Eine Mutter, die sich ihrer Familie geopfert und sich selber stark vernachlässigt hatte, ließ sich die Haare schneiden, wählte sorgsam ihre Kleidung und empfand nach langer Zeit das erste Mal ihre eigene Schönheit.

Shiatsu ist eine Schulung der Körperwahrnehmung. Diese wird feiner. Frühzeitig können Warnsignale empfangen und als Möglichkeit der eigenen Gesundheit erkannt werden.

Möglicherweise ist die Erfahrung achtsamer Berührung auf unterschiedlichster Ebene für viele Menschen unbekannt. Doch ich bin sicher, dass wenn wir sie erleben es wie ein Erinnern an unsere Ganzheit, an unsere göttliche Natur ist.

Auch Michelangelo fühlte diesen Moment und brachte ihn im Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle zum Ausdruck- das Geschenk der Berührung. Mich haben diese wenigen Tage in St. Altfrid auf meiner Reise zum eigenen Sein ermutigt und so danke ich allen für ihre Unterstützung, den Frauen für ihr Vertrauen und der Hausleitung für die Offenheit, Neues zu erproben und möglicherweise zu integrieren.

Kontakt:
Christina Hähner
c.haehner@gmx.de


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