Eine Querschnittlähmung ist keine Krankheit

 

Eine Querschnittlähmung ist keine Krankheit

Ein Interview mit Anne-Katrin Soehlke von Ulrike Schmidt von 2015


Liebe Katti,

als Physiotherapeutin hast Du 1987 begonnen Shiatsu zu lernen. 1997 haben wir zu dritt die Berliner Schule für Zen Shiatsu gegründet. Heute, nochmals 18 Jahre weiter: haben wir es geschafft, mit Shiatsu in der Öffentlichkeit präsent zu sein? Was hat sich seit Deinen persönlichen Anfängen mit Shiatsu in der Shiatsuwelt verändert?

Shiatsu ist auf jeden Fall bekannter geworden und zum Beispiel in den Medien präsenter. Allerdings hätte ich mir vor 18 Jahren für 2015 einen noch größeren Bekanntheitsgrad gewünscht. Meine persönlichen Anfänge im Shiatsu liegen ja über 25 Jahre zurück. Da war Shiatsu noch viel unbekannter und wurde eher misstrauisch beäugt. Insgesamt haben viele damals alternative Methoden an Anerkennung und Verankerung in der Gesellschaft gewonnen, sie haben ihren Platz. Ich empfinde jedoch eine gewisse Stagnation.


Du unterrichtest heute nicht nur in Freiburg an einer Physiotherapieschule, sondern auch schon seit vielen Jahren Shiatsu in der Schweiz. Ist dort die Nachfrage der Bevölkerung nach Shiatsu - gefühlt - größer als in Deutschland?

Ja, gefühlt ist sie größer, ich denke auch real. Durch ein anderes Versicherungssystem in der Schweiz gibt es viele Menschen, deren Versicherungen die Erstattung von Shiatsu ganz oder teilweise übernehmen. Das macht einen Unterschied. Dennoch wird Shiatsu vor allem in privaten Praxen angeboten und hat noch nicht den Einzug in Institutionen oder Krankenhäusern erhalten. Das soll sich in der nahen Zukunft ändern, wenn Shiatsutherapeuten als Komplementärtherapeuten einen staatlich anerkannten Abschluss erhalten. An diesem Modell der Komplementärtherapie, was übergreifend für viele Methoden wie Shiatsu, Yoga, Feldenkrais etc. erarbeitet wurde, wird schon lange gearbeitet und es steht kurz vor der Umsetzung. Das verändert zukünftig auch die Anforderungen an die Ausbildung.


Du bietest nun am 14./15.2.15 bei uns in Berlin den Kurs Shiatsu bei neurologischen Erkrankungen an. Als Nicht-Heilpraktikerin denke ich sofort: "ach, das geht mich nichts an, darf ich eh nicht anfassen, die Kranken…". Wie kann der Kurs auch für uns Shiatsu-PraktikerInnen, die ausschließlich in der Gesundheitsfürsorge arbeiten, spannend und lohnend sein?

Nun, gerade für diese Shiatsu-PraktikerInnen habe ich den Kurs konzipiert. Die Idee entstand vor etwa 5 Jahren. Im Rahmen einer Öffentlichkeitsveranstaltung der Shiatsu-Regionalgruppe Freiburg stellten wir Kurzbehandlungen in Shiatsu vor. Als eine Rollstuhlfahrerin an unseren Stand kam, wurden meine Kolleginnen unsicher, fast hilflos. Wir haben die junge Frau zu dritt aus dem Rollstuhl auf den Boden transferiert und ich habe ihr eine Shiatsu-Behandlung gegeben. Sie erzählte mir, dass sie mit Multiple Sklerose lebt. Die Behandlung tat ihr sehr gut. Meine Kolleginnen waren erleichtert und dankbar für meine spontane Reaktion. Sie hätten die Frau aus purer Hilflosigkeit vermutlich nicht behandelt. Dank meinem medizinischen Fachwissen fühlte ich mich einfach sicherer und konnte agieren. Dabei habe ich jeder meiner Shiatsukolleginnen zugetraut, der jungen Frau eine Behandlung zu geben. Denn Shiatsu an sich ich eine sehr gute Behandlungsmethode für Menschen, die neurologische Syndrome haben. Eigentlich können wir in solchen Situationen ganz normales Shiatsu geben.


Wodurch entstand dann die Irritation?

Den Kolleginnen in der Situation fehlte einerseits das Know how, wie man die Frau auf den Boden transferieren konnte. Und vielleicht auch ein wenig Basiswissen über neurologische Symptome wie Spastik. So entstand dieses Kurskonzept. Ich möchte mit meiner Erfahrung dazu beitragen, dass Menschen wie diese junge Frau Shiatsu bekommen, auch von Shiatsu-PraktikerInnen, die weder HeilpraktikerInnen noch Physiotherapeuten sind. Bei vielen neurologischen Patienten stellt sich mir die Frage: was bedeutet krank? Wann ist jemand krank? Eine Querschnittlähmung ist keine Krankheit. Ein Querschnittgelähmter hat eine Lähmung, aber er ist nicht krank. Gleichwohl kann er möglicherweise nicht gehen. Er ist gehbehindert. Ein sehbehinderter Mensch ist ja auch nicht krank. Natürlich leidet ein Parkinson Patient an einer Degeneration in einem Teil seines Gehirnes, aber ist er deswegen krank? Ein Mensch mit einem MS-Schub, ja, der ist in einer akuten Krankheitssituation, aber nachdem der Schub vorbei ist und sich seine Situation stabilisiert hat, ist er nicht mehr „krank“. Genau darum geht es mir auch in dem Kurs... diese sogenannten Erkrankungen besser zu verstehen und selber besser einschätzen zu können: kann ich Menschen zum Beispiel mit Parkinson oder nach einem Schlaganfall behandeln und wenn ja, was könnte anders sein? Worauf müsste ich achten? Was ist ein MS-Schub?


… und Shiatsu hat in diesem medizinischen Umfeld seinen Platz?

Ja, ich sehe Shiatsu auch hier als Gesundheitsfürsorge: Shiatsu hilft den Gesamtorganismus zu stabilisieren, zu entspannen, zu regenerieren. Eine Shiatsu-Behandlung lässt die EmpfängerInnen den eigenen Körper häufig wieder positiv empfinden, der durch Krankheit und Handicap oft als Feind oder zumindest nicht als Freund wahrgenommen wird. Gerade Menschen mit Lähmungen oder auch fortschreitenden Erkrankungen haben eine hohe Grundbelastung. Shiatsu kann helfen, damit besser fertig zu werden. Eine Frau mit Parkinson, die regelmäßig zum Shiatsu kommt sagte mal: Shiatsu hilft mir trotz meiner chronischen Erkrankung gesund zu bleiben... Mir geht es definitiv um Gesundheitsvorsorge, nicht um Heilung.


Inwieweit gehst Du auf die medizinische Entstehung, das westlich-medizinische Erklärungsmodell der typischsten Erkrankungen ein: Multiple Sklerose, Parkinson, Lähmungen?

Ich erkläre, was bei Morbus Parkinson oder MS passiert. Auch, was eine Spastik ist. Viele neurologische Erkrankungen oder Syndrome  gehen mit diesem „Zuviel an Spannung“ in der Muskulatur einher. Oder mit Defiziten im Berührungsempfinden und Lageempfinden. Shiatsu ist prädestiniert diese Symptome günstig zu beeinflussen. Diese Aspekte möchte ich erklären und praktisch üben. Dennoch geht es mir nicht darum Physiotherapie zu unterrichten. Mir geht es um Shiatsu.


Du brauchst Rollstühle und Pezzibälle für den Kurs…

Ja, Rollstühle, weil neben der Theorie, die Praxis alltagsnah alltagsnah sein soll. Ich würde mich freuen, wenn durch meine Anregungen die Hemmschwelle, jemanden im Rollstuhl zu behandeln sinken würde. Die Pezzibälle verwende ich, um eine wunderbare Methode zu zeigen, wie man eine entspannende Shiatsu-Behandlung bei zu hohem Muskeltonus ergänzen kann.


Vor wenigen Wochen habe ich zum ersten Mal einen Menschen - meine Mutter - im Rollstuhl geschoben. Ich muss sagen, es war wie ein kleiner Schock: "im Rollstuhl angekommen"… Ein Rollstuhl ist oft mit so einer erschreckenden Symbolik verbunden. Dabei ist es einfach ein Stuhl mit Rädern drunter, eine pfiffige Erfindung, die vieles erleichtert. Wie können wir lernen, entspannter mit dem Thema umzugehen?

Die eigene Mutter plötzlich im Rollstuhl zu erleben ist natürlich schmerzhaft. Ja, der Rollstuhl wird in Verbindung gebracht mit Endstation, aus der Gesellschaft ausgegrenzt zu sein, denk nur an den Ausdruck „an den Rollstuhl gefesselt“. Welch dramatischer Ausdruck. Dabei könnte doch ein Rollstuhl auch die Symbolik von Mobilität trotz Handicap haben. Ein Rollstuhl verleiht zwar nicht gerade Flügel, aber er macht beweglich. Ich kenne Menschen, die durch einen Querschnitt schon früh auf einen Rollstuhl angewiesen waren und ein eigentlich völlig normales Leben führen. Einer sagte sogar mal: ich wüsste nicht, warum ich mit einem Fußgänger tauschen sollte. Der Autor Andreas Pröve ist durch die halbe Welt gereist, alleine und im Rollstuhl, und hat sich Sachen getraut, die ich mich als Fußgängerin nie trauen würde... Schau Dir mal Videos von ihm auf YouTube an. Viele RollstuhlfahrerInnen haben mir mit ihren Biographien gezeigt, dass ein Rollstuhl nicht zwingend den totalen Verlust von Lebensqualität bedeuten muss. Es sind eher die Barrieren in der Umwelt, im Kopf oder ein miserabler Rollstuhl, die die Limits setzen. Und dennoch, um noch mal um noch mal auf Deine Mutter zurückzukommen: viele von uns werden erleben, dass Freunde, Verwandte und auch Klienten plötzlich auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Oder einfach nicht mehr so gut auf den Futon kommen, einige davon vielleicht wegen einem Schlaganfall, denn das ist die häufigste neurologische Erkrankung über 60 Jahre. Ich wünsche mir, dass wir ihnen selbstverständlich - weiterhin - Shiatsu geben. Und zu einer verbesserten Lebensqualität beisteuern können.


Wenn der Kurs für die TeilnehmerInnen läuft: welchen Erkenntnis- und Erfahrungsgewinn nehmen sie mit nach Hause?

Ich habe diesen Kurs in bereits in Zürich, Hamburg und Freiburg unterrichtet.
Viele TeilnehmerInnen gaben im Feedback an, sich sehr ermutigt zu fühlen, Shiatsu nun auch Menschen zu geben, die  z.B. einen Schlaganfall erlitten oder mit Parkinson leben. Oder sich nun zutrauen einer Freundin mit Multiple Sklerose Shiatsu zu geben. Und dass sie nun Ideen haben, wie sie einer etwas wackeligen alten Dame auf den Futon helfen können. Manche Teilnehmer haben bereits im Hospiz oder im Altenheim gearbeitet und waren froh, Ideen zu bekommen, wie sie mit Behandlungen im Bett umgehen können. Einige gaben an, nun mehr über die Möglichkeiten von Shiatsu erfahren zu haben, aber auch ihre Grenzen besser einschätzen zu können. Ich bitte die TeilnehmerInnen des Kurses einige Wochen im Voraus darum, mir ihr spezielles Interesse an dem Kurs mitzuteilen, damit ich dieses in der Kursplanung berücksichtigen kann. Das hat sich als sehr fruchtbar erwiesen. Ich habe auch festgestellt, dass Shiatsu-PraktikerInnen, die Erfahrung in Physiotherapie und Neurologie haben, von dem Kurs profitieren.


Liebe Katti, herzlichen Dank für Interview!

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